Ivor Bolton, der international gefeierte Dirigent aus England, beginnt mit der vorliegenden Einspielung einen neuen Bruckner-Zyklus mit dem Mozarteum Orchester Salzburg, dessen neuer Chefdirigent er seit Herbst 2004 ist.
Ivor Bolton
Chefdirigent · Chief Conductor
Der vielseitige, international außerordentlich
erfolgreiche englische Dirigent Ivor
Bolton ist in der Oper und im Konzertsaal gleichermaßen
zu Hause. Sein breites Repertoire
umfasst Barockmusik ebenso wie die Musik
unserer Zeit.
Bolton studierte an der Universität Cambridge,
am Royal College of Music und beim
National Opera Studio in London. 1992 bis
1997 war er Musikdirektor der Glyndebourne
Touring Opera, 1994 bis 1996 Chefdirigent des
Scottish Chamber Orchestra. Seit September
2004 ist er Chefdirigent des Mozarteum
Orchesters Salzburg.

Ivor Bolton arbeitet kontinuierlich an der
Bayerischen Staatsoper München. Seine Dirigate
von Opern Monteverdis (L’Incoronazione
di Poppea, Orfeo), Händels (Serse, Giulio
Cesare, Ariodante) und Glucks (Orphée et
Eurydice) fanden bei Publikum und Presse
sensationellen Anklang. Für seine hervorragenden
Leistungen erhielt er 1998 den renommierten
Bayerischen Theaterpreis.
1995 debütierte Bolton am Royal Opera
House Covent Garden mit der Uraufführung
von Alexander Goehrs Arianna. Im Jahre 2000
feierte er mit dem Mozarteum Orchester Salzburg
einen großen Erfolg mit Glucks Iphigénie
en Tauride bei den Salzburger Festspielen, wo
er seitdem immer wieder auftritt. Als gefeierter
musikalischer Leiter barocker, klassischer
und moderner Opern gastierte er u.a. in Bologna,
Buenos Aires, Sidney, San Francisco,
Paris, Florenz, Lissabon, Brüssel, Leipzig und
Genf. Beim Glyndebourne Festival hatte er
bedeutende Erfolge mit Werken von Gluck,

Mozart und Britten.
Im Konzertbereich leitete Bolton ebenso überzeugend
Orchester wie London Symphony, Tonhalle-
Orchester Zürich, BBC Symphony, die London
Mozart Players, Rotterdam Philharmonic
Orchestra, die großen amerikanischen Orchester
von Houston und Montreal. 2000 stand Bachs
Johannes-Passion auf dem Programm eines
Proms-Konzerts in London, ein Werk, das er
auch beim Münchener Festival 2000 dirigierte. In
der Saison 2003/04 dirigierte Bolton Konzerte im
Zyklus des Mozarteum Orchesters und bei der
Salzburger Kulturvereinigung mit Werken der
Wiener Klassik, von Wimberger (Uraufführung),
Britten und Bruckner.
Mit dem Mozarteum Orchester Salzburg
hat Bolton die Produktionen der Salzburger
Festspiele von Glucks Iphigénie en Tauride
und Mozarts c-Moll Messe aufgenommen,
sowie Mozarts „Prager“ Sinfonie und Mozarts
Sinfonie Nr. 40 KV 550 in der Serie „Mozart
aus Salzburg“ bei OehmsClassics.
Anton Bruckner:
Sinfonie Nr. 5
Josef Anton Bruckner begann die 5. Sinfonie
am 14. Februar 1875. Nach Vollendung
im nachfolgenden Mai unterzog er sie einer
Durchsicht: die am 4. Januar 1878 beendete
Revision erweiterte das Opus um eine Basstuba.
Er selbst bekam sie jedoch neun Jahre
später nur in einer Fassung für Klavier zu vier
Händen zu hören. (Zur orchestralen Uraufführung
am 8. April 1894 in Graz änderte Franz
Schalk das Werk formal wie instrumental und
kürzte das Finale gar um 122 Takte!)
Als Ausdruck Bruckners eigener innerer
Komplexität – und von ihm auch seine Phantastische
genannt – ist sie eins sicher: rätselhaft,
mitunter wie eine Denksportaufgabe, fast
abstrakt linear. Beethovens Neunte führte ihn
dabei zur deutlichsten Analogie, die er je zu
einem Vorbild herstellte. Zugleich aber vereinfachte
er bewusst: Beide Eckteile stehen in
der Grundtonart, die Binnensätze in d-Moll.
Angelehnt an klassische Tradition stellte
Bruckner ein einziges Mal eine langsame Einleitung
voran: mit Bezug auf seine erwiesene
Religiosität ließe sich dies als „Kirchenportal“
deuten. Kontrabass-Pizzikati gleichen Schritten
in unendlich weite Räume, einsame Streicher
finden zu schleichendem Kanon und verharren
mystisch im Dunkel. In die Stille dringt eine
Fanfare, unisono im ganzen Orchester über Ges
aufsteigend. Ihr antwortet ein choral-ähnliches
drittes Motiv im Blech. Nach Wiederholung
eine Terz höher formt sich eine Steigerung,
rhythmisch verkürzt und auch vom Tempo her.
Sie führt ins ursprüngliche Adagio zurück.
Man mag Bruckners damalige (brieflich
bewiesene) Existenzangst heraushören. Das
zweite Kopfsatz-Thema in f-Moll ist eine leidenschaftliche
Klage – die G-Saite fort und

fort wird von den 1. Geigen verlangt. Fast unmittelbar
nach Durchführungsbeginn bricht
zusätzlich erschütternde Depression durch:
eine schmerzliche Kantilene fleht nach Erlösung.
Auch der Beginn des einfach A-BA-
B-A mit Coda gestalteten Adagio kann als
Ausdruck einsamer Verlassenheit, der tristen
Lebensumstände zum Zeitpunkt der Komposition,
gedeutet werden: Pizzikato-Triolen der
Streicher stehen von der Oboe gesungene Duolen
quer – eine „traurige Weise“ als Erinnerung
an Wagners Tristan, der Bruckner stark
beeinflusste?
Ein einziges Mal unterwarf er selbst das
Scherzo der Sonatenhauptsatzform „en miniature“
(zudem gleichen die ersten 8 Takte der
Streicher-Begleitung exakt den ersten 4 des
vorangegangenen Satzes): Holzbläser tragen
als humorlose Persiflage das Hauptthema im
Einklang vor, danach folgt bedeutend langsamer
eine komplizierte Gleichzeitigkeit von vier
übereinander gelagerten tänzerischen Komponenten,
denen ein straffer dritter Gedanke
entgegensteht.
Konsequent metrisch strukturiert hat der
ausgedehnte Schlusssatz in seiner gewollten
Strenge wiederum möglicherweise mit Bruckners
Problem der angestrebten akademischen
Laufbahn an Wiens Universität zu tun.
Getrieben von der Idee Kontrapunkt zu lehren
mochte er sich und der Welt beweisen, zu
was er analog seines Verstehens von geisteswissenschaftlicher
Arbeit imstande war. Einzig
in der Geschichte sinfonischer Musik eint
hier absolute Meisterschaft formales Denken
und handwerkliches Können die Gestaltungsprinzipien
von Sonatensatz und Fuge über
zwei Subjekte.
Die 30 Einleitungs-Takte bilden die Schlüsselzahl:
Jeder Abschnitt beginnt mit einem
Vielfachen. Als Zusammenschau erklingt
vorerst der Beginn des Kopfsatzes, wobei in
der Klarinette das Motto aufblitzt – der
Oktav-Sprung vom Anfang des ersten Themas. Nach
Reminiszenzen an die vorangegangenen Sätze
türmt sich das Fugen-Thema auf: Fortissimo-
Einsätze der Streicher erstellen deren Exposition.
Teilgebilde verselbständigen sich zu
Kontrasten, Bläser-Akkordstöße akzentuieren,
bis punktierte Achtel ins sinfonische Geschehen
führen. Das lyrische Melodiengewebe an
zweiter Stelle wird gleich verarbeitet, allerdings
nicht fugiert. Nach leidenschaftlichen
Steigerungswellen ertönt an dritter Stelle unisono
in den Bläsern das zweiten Fugen-Thema,
abgeleitet vom ersten.
Bruckners kontrapunktisches Meisterstück:
Die danach erstehende weiträumige Doppelfuge
verbindet technische Vollendung mit
dramatischer Wucht. Zuletzt entfaltet das
Hauptthema in großen Notenwerten zusammen
mit dem vom Blech intonierten, ebenfalls
erweiterten Choral machtvoll die Schlussapotheose.
Horst Erwin Reischenböck
Fotos: OehmsClassics