Weltersteinspielung nach der „Hallischen Händel Ausgabe“ als Produktion
der Händefestspiele Halle, die dort im Sommer 2004 ihre umjubelte deutsche
Erstaufführung erlebte! Der Querschnitt präsentiert ausschließlich die
Highlights dieser Oper, dargeboten von einer weltweit führenden Sängerriege
und dem Kammerorchester Basel barock unter Leitung von Paul Goodwin.
Georg Friedrich Händel
(1685–1759)
L O T A R I O
Opera in 3 acts
Libretto: Giacomo Rossi
| Lawrence Zazzo (alto) | | Lotario | |
| Nuria Rial (soprano) | | Adelaide | |
| Annette Markert (alto) | | Matilde | |
| Andreas Karasiak (tenor) | | Berengario | |
| Huub Claessens (basso) | | Clodomiro | |
kammerorchesterbasel barock
Paul Goodwin, conductor
„Die Oper ist zu gut für den schlechten
Geschmack dieser Stadt.“
– Zur Entstehungsgeschichte
von Händels Lotario (1729)
Die Geburt von Händels Oper Lotario im Jahre
1729 stand unter einem unglücklichen Stern.
Zwar hatte sich die Royal Academy of Music mit
dem wohl prominentesten Sängerensemble der
Zeit zu einer der schillerndsten Opernbühnen Europas
entwickelt.

Jedoch leisteten sich die Aktionäre
von Händels Opernunternehmen mit den
italienischen Superstars und ihren horrenden
Gagen einen Luxus, der zum finanziellen Fiasko
führen musste. Nachdem sich 1727 die beiden
Primadonnen Francesca Cuzzoni und Faustina
Bordoni bei einer Aufführung von Bononcinis
Oper Astianatte auf offener Bühne beschimpften
und buchstäblich in die Haare gerieten, füllten
die Intrigen des Opernensembles die Klatschspalten
der Londoner Zeitungen. Die Plätze im
Opernhaus am Haymarket lichteten sich, und
als nur kurze Zeit später der Publikumsliebling,
der Altkastrat Senesino, London den Rücken
kehrte, stand Händels Opernunternehmen vor
dem Bankrott. Die Londoner Öffentlichkeit amüsierte
sich unterdessen im überfüllten Lincoln’s
Inn Fields-Theater, wo John Gays satirische
Burleske The Beggar’s Opera die künstliche
Welt der Opera seria, die Unverständlichkeit des
italienischen Gesangs und die Kommerzialisierung
der Adelsoper verspottete. Dennoch gaben
die Opernaktionäre der Königlichen Akademie
Händel und seinem Intendanten Heidegger die
Chance für die nächsten fünf Jahre neu zu planen,
wenn auch mit einem wesentlich bescheideneren
Budget.
Lotario war die erste Oper für die „New Royal
Academy of Music“. Händel reiste eigens nach
Italien, um ein neues Sängerensemble zu verpflichten.
Dass Händel in Venedig ausgerechnet
eine Aufführung von Giuseppe Maria Orlandinis
Oper Adelaide erlebte, mag Zufall oder Berechnung
gewesen sein. Die Titelpartien sangen
Senesino und Bordoni. Die Wiederbegegnung
mit den abtrünnigen Stars dürfte bei Händel
Erinnerungen an glücklichere Zeiten ausgelöst
haben. 10 Jahre zuvor hatte er Senesino in
Dresden, in der Rolle des Ottone in Antonio Lottis
Oper Teofane erlebt und den Kastraten kurz danach
für sein Londoner Unternehmen verpflichten
können. Als gefeierter Liebling des Londoner
Opernpublikums sang Senesino die gleiche Rolle
in Händels Ottone (1723). Vielleicht sah ja Händel
in der Wahl des historischen Hintergrunds aus
dem Zeitalter der Ottonen seinen Glücksbringer
und ließ das Libretto Adelaide für die neue Oper
Lotario bearbeiten.
Doch Händels Plan, dem Londoner Publikum
einen bekannten Stoff mit neuen Sängern
zu präsentieren, brachte keinen Erfolg, auch
wenn Lotario nach seiner Uraufführung am
2. Dezember 1729 neun weitere Aufführungen
im King’s Theatre am Haymarket erlebte.
Mrs. Pendarves, eine Liebhaberin der Musik
Händels, teilt in einem Brief vom 20. Dezember
an ihre Schwester Ann Grannville die
Gründe für das Scheitern von Lotario beim
Londoner Publikum mit:
„Die Oper ist zu gut für den schlechten Geschmack
dieser Stadt: Sie ist dazu verurteilt,
nach dem heutigen Abend nicht mehr auf der
Bühne zu erscheinen. Es verlangt mich, ihr
Sterbelied zu hören, armer lieber Schwan.
Wir werden Wiederaufführungen einiger alter
Opern haben, was mir Leid tut, weil es die
Leute veranlassen wird, Vergleiche zwischen
diesen und den früheren Sängern anzustellen,
was bei der leichtfertigen Menge nachteilig
sein wird. Die gegenwärtige Oper ist unbeliebt,
weil sie zu sorgfältig gearbeitet ist, und
sie lieben nichts als Menuette und Balladen,
kurz gesagt, allein die Beggar’s Opera und
Hurlothrumbo sind des Beifalls wert.“
Mrs. Pendarve erkannte, dass Händel mit
dem Lotario ein Glanzstück, ein großer kompositorischer
Wurf gelungen war. Doch der Erfolg
blieb ihm versagt. Das Publikum langweilte sich
während der musikalischen Darstellung ritterlicher
Heldentaten, dargeboten von einem unbekannten,
neuen Sängerensemble. Stattdessen
amüsierte man sich über die derben Späße eines
gewissen Lord Flame in der musikalischen
Posse Hurlothrumbo, die nach der Absetzung
von Lotario fünfzig Aufführungen im überfüllten
Haymarket Theater erlebte. Unter dem Pseudonym
„Lord Flame“ eroberte Samuel Johnson
(nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen
berühmten englischen Dichter), einer der letzten
professionellen Hofnarren Englands, die Herzen
der Zuschauer.
Selbst Mrs. Pendarves beargwöhnte Händels
neue Operntruppe mit kritischen Augen
(vor allem was die Sängerinnen betrifft):
„Bernachi [Lotario] hat einen sehr breiten
Stimmumfang, seine Stimme ist schmelzend,
aber nicht so süss wie Senesinos, sein Benehmen
ist besser, seine Erscheinung nicht
so günstig, denn er ist gross und breit wie ein
spanischer Mönch. Fabri [Berengario] hat einen
süssen klaren und festen Tenor; doch ich
fürchte, die Stimme ist nicht kräftig genug für
die Bühne: er singt wie ein Gentleman, ohne
das Gesicht zu verziehen, und er ist von ausgesprochen
angenehmer Wesensart; er ist
der grösste Musikmeister, der jemals auf
einer Bühne gesungen hat. Als drittes kommt
der Bass [Clodomiro], eine sehr gute charakteristische
Stimme ohne jede Härte. La
Strada [Adelaide] ist die erste Sängerin, ihre
Stimme ist makellos, ihr Benehmen perfekt,
aber ihr Erscheinungsbild sehr schlecht, sie
schneidet entsetzliche Grimassen. La Merighi
[Matilda] kommt als nächste; ihre Stimme ist
nicht ausgesprochen gut oder schlecht; sie ist
gross und von sehr graziöser Erscheinung, mit
einem annehmbaren Gesicht; sie muss wohl
über vierzig sein, singt leicht und angenehm.“
In einem Brief von Händels früherem Librettisten
Paolo Anton Rolli an Giuseppe Riva in
Wien vom 11. Dezember 1729 aus London wird
dieser Eindruck bestätigt:
„Vor neun Tagen hat die Oper Lotario angefangen.
Ich war erst am vergangenen Dienstag
da, also zur dritten Vorstellung. Die Oper wird
allgemein für sehr schlecht gehalten. Bernacchi
gefiel am ersten Abend nicht, änderte aber seine
Methode am zweiten und fand Anklang: figürlich
und stimmlich gefällt er nicht so wie Senesino,
aber der Ruhm seiner Kunst macht denjenigen
still, der ihm nicht applaudieren will oder kann
[…] er hat tatsächlich eine einzige Arie, in der er
glänzen kann, weil […] er [Händel] mit der ganzen
Oper einen Bock geschossen hat. Das Buch
wurde voriges Jahr unter dem Titel Adelaide von
Faustina und Senesino in Venedig gesungen.
Der Schurke! Die Strada gefällt sehr, und dem
Langen [Händel?] zufolge singt sie besser als
die beiden Vorigen [Cuzzoni und Faustina], weil
die eine niemals gefallen hat, und weil er will,
dass die andere vergessen wird. Die Wahrheit
ist, dass diese [die Strada] eine schneidend dünne
Sopranstimme hat, die die Ohren kitzelt: aber
wie weit sind wir von der Cuzzoni entfernt! Das
ist auch die Meinung von Bononcini, mit dem zusammen
ich die Oper hörte. Fabri gefällt sehr, er
singt wahrhaftig gut. Hättet Ihr jemals geglaubt,
dass ein Tenor hier so viel Beifall finden könnte?
Die Merighi ist wirklich eine vollendete Schauspielerin
und wird allgemein so eingeschätzt.
Da ist eine Bertolli, ein römisches Mädchen, das
Männerrollen singt. Oh, lieber Riva, wenn Ihr sie
unter ihrem Helm schwitzen sehen werdet – ich
bin sicher, dass Ihr sie auf höchst Modeneser Art
begehren werdet – oh, wie wunderschön sie ist!
Dann ist da noch ein Bass aus Hamburg, dessen
Stimme mehr von einem natürlichen Alt als von
einem Bass hat; er singt süß durch die Gurgel
und durch die Nase, spricht das Italienische
deutsch aus, spielt wie ein junges Wildschwein
und hat ein Gesicht, das mehr nach Kammerdiener
als nach etwas anderem aussieht. Schön!
Wirklich sehr schön! Man bereitet Giulio Cesare
vor, weil das Publikum stark abnimmt. Mir
scheint, dass nun der Sturm über den stolzen
Bären [Händel] hereinbrechen wird. Nicht jede
Bohne will man essen, und eine so schlecht gekochte
erst recht nicht. Heydeger [Heidegger]
hat viel Beifall für die Kostüme erhalten und
genügend für die Szenerie, wo wenigstens das
ewige Mittelmaß herrscht."
Worauf sich die „schlecht gekochten Bohnen“
wirklich beziehen lassen, ist angesichts
der kraftvollen wie kantablen Musiksprache
Händels kaum nachvollziehbar. Händels Lotario
mangelt es weder an kompositorischer
Raffinesse, noch an affektgeladenen Arien
oder leidenschaftlicher Dramatik.
Die auf dieser CD zusammengestellten Arien
beeindrucken durch ihre sorgfältige polyphone
Ausarbeitung, einen melodischen Reichtum und
eine ungewöhnliche Schönheit des musikalischen
Ausdrucks zwischen prächtigen Koloraturen
(Nr. 4, 6, 8) und intim-lyrischen Momenten
(Nr. 3, 5, 11). Bevor der breit angelegte Schlusschor
„Gioie e serto“ (Nr. 15) die Oper glanzvoll
beendet, singt das glücklich vereinte Königspaar
Adelaide/Lotario eines der schönsten Duette
aus der Welt der Barockoper (Nr. 14).
Was Lotario aus Sicht des Publikums im
Jahre 1729 fehlte, waren die Popstars der
italienischen Oper mit ihrer Aura des Extravaganten
und Sensationellen. Stattdessen bevorzugte
man eine witzige Unterhaltung nach
den Spielregeln der damaligen Spaßkultur.
Um so erfreulicher ist es, dass Dank der
neuen Edition der Hallischen Händel-Ausgabe
der Lotario nach einem langen Dornröschenschlaf
der Vergessenheit entrissen werden
konnte. Mögen ihm zahlreiche Aufführungen
und Einspielungen beschieden sein.
Hans-Georg Hofmann
Libretto und Musik
Nach Reinhard Strohm1 geht Händels Libretto
auf Antonio Salvis Libretto Adelaide
zurück, das zuerst von Pietro Torri vertont
worden war, dessen Oper 1722 in München
uraufgeführt wurde. Händel wird den Text erst
in der Vertonung Giuseppe Maria Orlandinis
im Frühjahr 1729 in Venedig kennengelernt
haben. Orlandinis Adelaide war 1726 in Genua
uraufgeführt worden. Die Textfassung der venezianischen
Aufführungen von 1729 diente
Händel und seinem Librettisten als Vorlage
für Lotario. Händels Librettist war vermutlich
Giacomo Rossi. Für diese Vermutung gibt
es nur einen Beleg, den Brief Rollis an Riva
vom 3. September 1729 (Original italienisch):
„Ihr werdet erfahren haben, dass Attilio und
Haym gestorben sind. Erfahrt jetzt, dass der
berühmte Rossi, italienischer Schriftsteller
und Poet, Händels Dichter ist.“
Die im venezianischen Vorlagelibretto von
1729 und im Libretto der Uraufführung der
Händel-Oper von 1729 abgedruckte Vorgeschichte
lautet auf deutsch (Übersetzung des
italienischen Textes des Librettos von 1729):
„Adelaide, Tochter von Rodolfo, Graf von
Burgund und König von Italien, war dank ihrer
Schönheit und Tugend die berühmteste Fürstin
ihrer Zeit. Sie heiratete Lotario, den Sohn
von Ugo, Graf von Arles, welcher die Herrschaft
eher wie ein Vater als wie ein König
führte: dessen ungeachtet erhob sich das Volk
gegen ihn und unterstützte Berengario, den
Herzog von Spoleto; Lotario aber griff nicht
zu den Waffen, sondern teilte das Reich mit
dem Herzog, überließ Berengario den Thron
von Mailand und begnügte sich damit, in Pavia
zu residieren. Es verging nicht viel Zeit,
bis Berengario, begierig, das ganze Reich zu
besitzen, Lotario vergiften ließ und, um seinen
Anspruch auf den Thron besser zu begründen,
die verwitwete Adelaide zu überreden
versuchte, seinen Sohn Idelberto zu heiraten.
Da die kluge Königin diese Heirat verweigerte,
wurde sie von Berengario in Pavia belagert.
Atto, der Markgraf von Toscana und Onkel
von Adelaide, der die Gefahr für seine Nichte
vorausgesehen und die Tapferkeit Ottos, des
Königs von Deutschland (dessen Name für die
Bühne in Lotario geändert wurde), rühmen gehört
hatte, bat diesen, seiner Nichte beizustehen.
Mit der Belagerung und Einnahme Pavias
durch Berengario beginnt das Drama.“
Geschichtlicher Hintergrund der Handlung
ist also der Streit um die italienische Krone
zwischen Otto I. (912-973) und Berengar von
Ivrea (um 900-966), Ottos Sieg und seine Hochzeit
mit der italienischen Königin Adelaide (um
931-999) im Jahre 951. Der Name des Helden,
bei Salvi „Ottone“, wurde für Händel zu „Lotario“
geändert, weil es bereits eine Oper Ottone
(HWV 15) über Otto II. (955-983) von ihm gab.
Im Autograph vermerkte Händel am Beginn
der 12. Szene des 2. Aktes NB. qui e [m]utato il
nome Ottone [in] Lottario („Merke wohl: hier ändert
sich der Name Ottone zu Lottario“). In der
nächsten Personenangabe heißt der König
Lottario, bis zum Ende der Oper dann Lotario. „Adelaide“
sollte die Oper offenbar deshalb nicht heißen,
weil Händel und sein Librettist ihr Publikum
nicht animieren wollten, den Text auf den Grad
der Übereinstimmung mit demjenigen der Orlandini-
Oper hin zu untersuchen.
Winton Dean schreibt über die von Händel
ab 1729 vertonten Opernlibretti: “In most of
these librettos the recitative is even more ruthlessly
shortened, sometimes to the point of
rendering the plot almost impenetrable (Sosarme,
Berenice, Faramondo).”4 Im Falle des
Lotario jedoch vollbrachte Rossi, wenn er es
war, eine Meisterleistung. Resultat seiner Arbeit
ist ein für eine Barockoper ungewöhnlich
konziser und gut verständlicher Text: Die Rezitative
wurden von Rossi für Händel nicht nur
gekürzt, sondern durch Kürzung, Umstellung
und Neudichtung verbessert, fast die Hälfte
des Textes schrieb Rossi neu. Dabei entfiel
die Bühnenfigur des Everardo, eines Vertrauten
Ottones. Das Tempo der Handlung und die
Spannung wurden erhöht, ohne Einbußen in
der Personencharakteristik und ohne wesentliche
Einbußen in der Verständlichkeit.
Von den 30 Arien-, Arioso- und Ensemble-
Texten des Lotario übernahm Rossi 21 aus dem
Vorlagelibretto, 17 davon unverändert. Im Adelaide-
Libretto gibt es sieben Gleichnis-Arien.
Rossi eliminierte zwei davon, nämlich die beiden
Turteltaubenarien, während er andererseits zwei
neue hinzudichtete, so dass es auch bei Händel
sieben Gleichnisarien gibt. Durch die Einfügung
der beiden neuen Gleichnisarien wird die Monotonie
einer dreimal gleichen dramatischen Situation
vermieden. Bei Orlandini gibt es drei große
Partien (Adelaide, Berengario, Ottone) und vier
kleine (Matilde, Idelberto, Clodomiro, Everardo).
Bei Händel sind es vier große Partien (Adelaide,
Lotario, Matilde, Berengario) und zwei kleine
(Idelberto, Clodomiro). In Orlandinis Oper singen
die Schurken in elf Musiksätzen (Recitativi
semplici und Cori ausgenommen), die Gerechten
dagegen in 17 Musiksätzen. Bei Händel führt die
Erweiterung der Partie Matildes zur Hauptpartie
zu einer ausgewogeneren Dramaturgie: 15 Musiksätze
der Schurken stehen 18 der Gerechten
gegenüber. Im Gegensatz zu Orlandini bleibt bei
Händel der Konflikt zwischen guten und bösen
Personen auch in der Abfolge der Musiksätze
fast bis zum Ende der Oper präsent.
Michael Pacholke