Knaben der Chorschule der
Wiener Sängerknaben
Choralschola der Wiener Hofburgkapelle
Clemencic Consort
William Dongois | Zink |
Peter Gallaun | Renaissanceposaune |
Christoph Gems | Renaissanceposaune |
Renate Slepicka | Renaissanceposaune |
René Clemencic Spätgotisches | Orgelpositiv
künstlerische Leitung |
Einführung
Die Zeit um 1500 ist eine Wendezeit.
Janusköpfig blickt sie in Mittelalter und
Neuzeit zugleich, ist Gotik und Renaissance,
Ende und Neubeginn. Die Wiener Hofkapelle
Kaiser Maximilians I., des „letzten Ritters“
und begeisterten Humanisten, steht im musikalischen
Brennpunkt dieser Tendenzen. Ihr
Repertoire spiegelt in hervorragender Weise
alle wesentlichen musikalischen Zeitströmungen
in künstlerischen Spitzenleistungen
wider. Als Institution tritt sie im Juli 1498 in
die Welt. Die bis dahin in ihrer Zusammensetzung
ständig wechselnde und an keinen fixen
Ort gebundene Hofkapelle beginnt sich nun,
auf kaiserlichen Wunsch, zu stabilisieren. Ihr
ständiger Sitz wird Wien, was keinesfalls
selbstverständlich war, da Maximilian Innsbruck
und auch Augsburg als Aufenthaltsorte
zu bevorzugen schien.
Schon 1496 hatte Maximilian, seit 1493
Kaiser, von Pisa aus einen Teil der Kapelle
samt dem hochberühmten Komponisten Heinrich
Isaak nach Wien geschickt. „Wir haben
Hansen Kerner, unsern obersten Caplan und
Cantor mitsambt 12 Knaben und Gesellen darzue
den Ysaak und sein Hausfraw gen wien
verordnet“ (13. November 1496).
Am 7. Juli 1498 wird der „Huebmeister“
(eine Art Aufseher über Zinspflichtige) Hans
Harasser vom Kaiser aus Freiburg im Breisgau
angewiesen „daran zu sein, damit dieselben
unser Singer alle tag ain ambt singen“
in Wien. Am 20. Juli ein detaillierter Erlass:
„Lieber Herr Huebmeister, die Röm. K. Mt.
(Römisch kaiserliche Majestät) etc. unser
allergnedigster Herr, hat zu Wien ain Capellen
auffzurichten furgenommen, und derselbig
Capellen Herren Georgen N. zu Singmaister
(…) verordnet“. Zentrum der kaiserlichen
Hofkapelle war die Kantorei, das aus Knaben
und Männern zusammengesetzte Vokalensemble
zur Ausführung der kunstvollen,
mehrstimmigen Sakralmusik. Ihnen standen
Zinken- und Posaunenbläser zur Seite. Unter
den ihr angehörenden Organisten ragte Maximilians
Leiborganist Paul Hofhaimer hervor.
Für weltliche Feste und Unterhaltungen
stand dem Kaiser eine Unzahl von Spielern
auf Zupf- und Streichinstrumenten (die sich
manchmal auch bei geistlichen Hochämtern
hören ließen), wie auch „Pfeifern“ und „Trommelschlager“
aller Art zur Verfügung. Eine
Klasse für sich bildeten die „Trummeter und
Pauken“, die nicht nur im Krieg, sondern
auch bei öffentlichen Anlässen, bei Turnieren,
in Kirche und Palast zu hören waren.
Zur Hofkapelle im eigentlichen und engeren
Sinne scheinen nur die Kantorei, Zinken- und
Posaunenbläser, sowie die Organisten gehört
zu haben, im weiteren Sinne aber wohl alle
Mitglieder der kaiserlichen Hofmusik. Trotz
aller Stabilisierungsversuche blieb aber der
Mitgliederstand der Kapelle weiterhin vielen
Schwankungen unterworfen, was sicher
auch mit des Kaisers ständigen Geldnöten
zu tun hatte. Hauptsitz war nun zwar Wien,
aber wenigstens ein Teil der Kapelle, oft die
ganze Hofmusik, hatte den reiselustigen Kaiser
bei seinen zahlreichen Unternehmungen
zu begleiten. Zum ersten Kapellmeister wurde
der aus Laibach stammende spätere Bischof
von Wien, Georg Slatkonia, berufen. Auch er
war wie Hans Kerner, bereits als Caplan und
Cantor im Amte gewesen. Der gebildete und
überaus organisationstüchtige Slatkonia blieb
auch als Bischof weiterhin „obrister Capellmaister“
der Hofkapelle. „Nach rechter Art
und Concordantz / auch Simphoney und Ordinantz
/ Junctur und mancher Melodey / hab
Ich gemerth die Cantorey / doch nicht allain
aus meim bedacht: / der Kaiser mich dartzue
hat bracht.“ (Vers aus dem Triumphzug
Maximilians).
Hofkomponist war bis zu seinem Tod
im Jahr 1517 Heinrich Isaak, dem sein Schüler
Ludwig Senfl in diesem Amte nachfolgte.
Das wenigstens zum Teil rekonstruierbare
Repertoire der Wiener Hofkapelle zeigt eine
Dominanz niederländischer bzw. franko-flämischer
Musik. Die geistlichen Werke dieser
Schulen stellen einen der gewaltigsten
Gipfel nicht nur abendländischer Kunst dar.
Höhepunkt der Mehrstimmigkeit, glückliche
Ehe nordischer Tiefe und Mystik, französischer
Rationalität und Architektonik, sowie
italienischer Klarheit und süßer Sinnlichkeit
(dolcezza!). Die Messen und Motetten lassen
sich an geistiger Größe und numerologischmystischer
Konstruktion nur mit den Pyramiden
und Kathedralen vergleichen.
Auf der vorliegenden CD stellen wir neben
Kompositionen der maximilianischen Hofkapellmeister
Heinrich Isaac und Ludwig Senfl eine
Messe von Josquin Desprez vor, dem bedeutendsten
Komponisten dieser Epoche, dessen
Werke in keinem damaligen Repertoire fehlen
durften. „Josquin … ist der noten meister,
die habens müssen machen, wie er wolt; die
anderen Sangmeister müssen machen, wie
es die noten haben wöllen … Josquiin, des
alle composition frolich, willig, milde heraus
fleust … sicut des fincken gesang“ (Martin
Luther). Josquin scheint gegen 1450 in nächster
Umgebung seines späteren Todesortes,
Conde-sur-Escaut, im heutigen Nordfrankreich
geboren worden zu sein. Er stand im
Dienst des René von Anjou, der Sforzas in
Mailand, der päpstlichen Kapelle in Rom, der
Hofkapelle des französischen Königs Ludwig
XII., und schließlich des Ercole I. d‘Este in
Ferrara. 1505 wird er in Conde zum Probst
ernannt, wo er 1521 stirbt.
Die Würfelmesse, Missa „di dadi“, ist im
dritten Buch der Messen Josquins, 1514–1516
von Petrucci in Venedig gedruckt, erstmals
erschienen. Wegen des sehr sparsamen
Gebrauchs der Imitation weist man dieses
Werk einer früheren Schaffensperiode des
Meisters zu. Durch einen fast gleichlautenden,
zweistimmigen Beginn der Oberstimmen
(„Motto“) wird die zyklische Einheit des Ordinarium
Missae unterstrichen. Darüber hinaus
ist die Messe eine sogenannte cantus-firmus-
Messe. Der c. f., ein in fast jedem Abschnitt
der Messe melodisch wörtlich wiederholter
kurzer Melodieabschnitt, durchzieht als geistiges
Band das ganze Werk. Noch spätmittelalterlichem
Geist entsprechend, wird dieses
Wesentliche, Tragende aber in einer Mittelstimme
fast verborgen. Nur die Länge der Tonwerte
hebt sie aus dem „Alltag“ der polyphonen
Textur heraus, hebt sie ins quasi Zeitlose,
Ewige. Wie damals allgemein üblich, ist die
Melodie des c. f. keine frei erfundene, sondern
eine vorgegebene, bereits vorhandene:
Re-ligio, Rückbindung an Gegebenes. Der
c. f. entspricht dem Beginn der Tenorstimme
des Chansons N‘auray je jamais mieulx des
in Burgund zwischen 1457–1476 tätigen englischen
Musikers Robert Morton. Die Melodie
des c. f. wird bis zum ersten Agnus stets
in der Tenorstimme (Tenor von tenere, Halten
der Töne!) vorgetragen. Zunächst in der
Kurzform, nur der Chansonbeginn, dann ab
dem ersten Hosanna in der vollen Länge der
Chansonmelodie. Nur im letzten Agnus wird
der c. f., eine Quarte tiefer, in der Bassstimme
realisiert. Ohne c. f. sind das Christe, die zwei-
und dreistimmigen Teile des Gloria, sowie das
Pleni sunt und das zweistimmige Benedictus
und zweite Agnus. Im Kyrie tritt der c. f. im
doppelten Zeitmaß des Originals auf, im Gloria
im vierfachen und achtfachen, im Credo im
sechsfachen, bzw. zwölffachen. Das Sanctus
bis zum Pleni sunt trägt die Semibreven des
Originals im fünffachen Zeitmaß vor. Die Proportionen
werden im Petrucci-Druck durch
Abbildungen von Würfelaugen verdeutlicht:
Kyrie = 2:1, Gloria = 4:1, Credo = 6:1, Sanctus =
5:1. Daher der Name Missa „di dadi“, Würfelmesse.
Eine tiefgehende, symbolische Deutung
dieser Strukturen ist Michael Long gelungen.
Weltlichen Dingen, hier ein Liebeschanson
und das teuflische Würfelspiel, wurde im ausgehenden
Mittelalter und der Renaissance
spirituelle, gleichnishafte Symbolkraft zugeschrieben.
„Spiritualia sub metaphoris corporalium“
(Geistiges in sinnlichen Metaphern)
nannte das Thomas von Aquin. Es geht hier
um ein Spiel mit dem Teufel, um das ewige
Seelenheil zu erlangen, geistigen statt
weltlichen
Reichtum. Alle Zahlen der Würfelaugen
haben tiefere Bedeutung. Die 1 entspricht
Gott, die 2 der Spaltung göttlicher Einheit, die
4 den vier Evangelien, vier Kardinaltugenden
etc., die 5 den fünf Wunden Christi, die 6 den
sechs Schöpfungstagen, den sechs Stufen
an Salomons Thron etc. Beim Würfelspiel im
damaligen Frankreich, meist zwei Spieler mit
je 2 Würfeln, gewann, wer die höhere Augenzahl
warf, außer einer warf „hazart“, d. h. eine
Summe von 6 oder 12. Dann wurde das Spiel
abgebrochen. Wer „hazart“ machte, hatte
gewonnen. In der Würfelmesse ist der Spielverlauf
folgender: Kyrie 1 = 2:1 (1. Spieler),
Kyrie 2 = 2:1 (2. Spieler), daher unentschieden,
und das Spiel geht weiter. Gloria (et in terra) =
4:1, Gloria (qui tollis) = 4:1. Das Spiel geht weiter.
Credo (Patrem) = 6:1, Credo (Crucifixus) =
6:1. Wieder geht das Spiel weiter. Sanctus =
5:1, d. h. Gesamtsumme der Würfelaugen = 6.
Der 1. Spieler hat gewonnen („Hazart“!), das
Würfelspiel ist beendet. Ab hier erscheint das
Chanson der Liebe (weltliche gleich geistlicher
Liebe) in voller Länge: „ie suis vostre et
le seray“, „euer bin ich, und werd ich immer
sein“! Im Messritus vollzieht sich an dieser
Stelle zwischen Hosanna 1 und Benedictus
die heilige Wandlung. Die Vereinigung der
Seele mit Gott kann beginnen. Der geistige
Spieler gewinnt die Münze (in der Form der
Hostie ähnlich) des ewigen Lohnes. Über die
Ähnlichkeit der Hostie mit gewissen Süßigkeiten
und Bäckereien hat die damalige
Theologie
eingehende Vergleiche angestellt. Der
Waffelverkäufer der damaligen Zeit, „oblieur“,
hatte allein das Recht öffentlich Würfel zu
spielen. Man konnte sich so auf der Straße
Waffeln erwürfeln. Der Name der noch ungeweihten
Hostie war übrigens „oublie“! Eine
Fülle geistiger Bezüge, die dem Menschen
der damaligen Zeit meist wohl recht vertraut
waren.
Das Josquinsche Ordinarium Missae, die
Missa „di dadi“, ist, dem damaligen Zeitgebrauch
entsprechend, mit Proprienabschnitten,
Orgelstücken und instrumental interpretierten
Motetten umgeben, um so ein sinnvolles
Ganzes erklingen zu lassen.
Die eingefügten Propriengesänge stammen
von Heinrich Isaac, seit 1497 Hofkomponist
Kaiser Maximilians I. Introitus und Alleluia
enstammen dem gewaltigen „Choralis
constantinus“, einer Propriensammlung, die
nur zum Teil für die Kathedrale von Konstanz,
größtenteils aber für die Wiener Hofkapelle
verfasst wurde. Zugrundeliegende gregorianische
Melodiestrukturen werden im meist vierstimmigen
Satz kunstvoll imitativ verarbeitet.
Gelegentlich tritt die gregorianische Struktur
auch fast unverändert, in langen c. f.-artigen
Notenwerten auf.
Das Magnificat stammt von Ludwig Senfl,
der seine musikalische Karriere als Sängerknabe
an der Wiener Hofkapelle Kaiser Maximilians
I. begann. Er folgte Isaac im Amt des
Hofkomponisten nach. Sein Magnificat sextitoni verarbeitet die gregorianische Magnificat-
Melodie kunstvoll im meist vierstimmigen
Satz. Bei aller subtilen Kontrapunktik wird
auch dem Deklamatorischen und renaissancehafter
Klangsinnlichkeit Rechnung
getragen.
Die Instrumentaleinlagen stellen instrumentale
Versionen von Motetten Isaacs,
Senfls und Josquins dar, wie das dem damaligen
Gebrauch entspricht. Die Orgelstücke
sind Intavolierungen zeitgenössischer Motetten
oder eigenständige Instrumentalstücke.
Die Trauerode Quis dabit oculis wurde vom
genialen Italiener Constanzo Festa, dessen
Werke oft mit denen Josquins verwechselt
wurden, auf den Tod der Anna von England,
Gemahlin des französischen Königs Ludwig
XII., komponiert. Senfl hat ihre Musik, mit
kleinen, dem Anlass entsprechenden Textveränderungen,
als Trauerode auf den Tod Kaiser
Maximilians I. (1519) verwendet. Lange galt
sie als seine Komposition.
Gesungen wurde bei dieser Produktion aus
der originalen Notation der Renaissance, der
weißen Mensuralnotation, die, um den Linienfluss nicht zu stören, keine Taktstriche und
keine Partituranordnung kennt (siehe Abbildungen
Seite 15 und 17).
René Clemencic