Juwel musikalischer Hörfreuden“, „Beethoven ernstgenommen“,
„Nicht irgendein x-ter Aufguss“, „Endlich ein
Beethoven für Kenner und musikalische Geister“: Die
internationale Presse war voll des Lobes, als Bertrand
de Billy und das Radio-Symphonieorchester Wien
2007 Beethovens 3. Sinfonie „Eroica“ bei OehmsClassics
vorstellten. Mit der Fünften und Sechsten, der
„Schicksalssinfonie“ und der „Pastorale“, liegen nun
zwei der populärsten Sinfonien von Beethoven vor.
Prämisse bei Bertrand de Billys Interpretationen ist
stets absolute Texttreue, die auch die Befolgung der
originalen Tempobezeichnungen zwingend beinhaltet,
um die Proportionen der Werke zu erhalten.
Während die 5. Sinfonie von ihrem schicksalhaften
Klopfmotiv bestimmt wird und sich vom Dunkel
ins finale Licht entwickelt, zählt die „Pastorale“ zu den
wichtigsten Programmmusiken überhaupt. Gewitter,
Vogelrufe oder derber Bauerntanz – Beethovens Partitur
schäumt geradezu über vor Einfällen.
Von den Sternen der Freiheit zur Moral der Empfindung
Anmerkungen zu Beethovens Symphonien
Nr. V und VI
Mit der V. und VI. Symphonie gelangen wir
ins Zentrum von Ludwig van Beethovens
symphonischem Schaffen. Der mit der
„Eroica“ eingeschlagene Weg manifestiert
sich, und die Verbindungen, Querverbindungen,
Antagonismen und die thematisch
absichtsvollen Gegensätze bzw. Querbezüge
innerhalb der einzelnen Werke, aber auch
der einzelnen Symphonien zueinander sind
kaum zu entflechten. So reichen die ersten
Skizzen der V. Symphonie in c-Moll bereits in
die „Eroica“-Zeit hinein, werden dann durch
die IV. Symphonie (in B-Dur) unterbrochen
und schließlich im Herbst 1807 zur endgültigen
Ausführung wieder vorgenommen.
Parallel dazu entwickelt sich die thematisch
scheinbar so gegensätzliche VI. Symphonie in
F-Dur, die später unter dem Titel „Pastorale“
weltberühmt wird – und zwar derart parallel,
dass sie in der Zeit der Uraufführung teilweise
noch als V. Symphonie firmierte.
Tatsächlich erklang bei der Uraufführung
beider Werke, die in jener musikgeschichtlich
einzigartigen „Akademie“ am 22. Dezember
1808 im Theater an der Wien stattfand, zu
Beginn des Abends zuerst die Pastorale und
erst zu fortgeschrittener Stunde als vorletztes
Werk die Symphonie in c-Moll. Über dieses
Ineinanderfließen wesentlicher Arbeiten Beethovens
und die paarweise Entstehung insbesondere
der V. und VI. Symphonie einerseits
sowie andererseits der VII. und VIII. unmittelbar
danach ist bereits viel geschrieben und
spekuliert worden. Ebenso ist nicht zu übersehen,
dass auf die „ungeraden“ Symphonien
III, V und VII, denen man allesamt einen
heroischen Charakter attestieren könnte, mit
den „geraden“ Symphonien IV, VI und VIII
vom Charakter her eher ruhigere, freundlichere
und teilweise auch humorvollere Werke
folgen. Es ist hier nicht der Ort darüber weiter
zu philosophieren, obwohl man durchaus mit
Gewinn für die Werke auf wesentliche Erkenntnisse
stoßen kann. Wir wollen uns aber
zumindest im Falle der beiden hier vorliegenden
Symphonien einige konkrete Gedanken
machen, die diesen Bereich zumindest immer
wieder berühren werden.
Zur V. Symphonie
Die Eckdaten – erste Skizzen um 1803, Ausarbeitung
1807, Uraufführung 1808 – wurden
bereits erwähnt. Die Tatsache, dass sich
bereits in den „Eroica“-Skizzenbüchern erste
Versuche zur Symphonie in c-Moll finden
(besonders das berühmte Anfangsmotiv), ist
von Bedeutung. Auch dass der Charakter der
V. Symphonie dem der „Eroica“ nahesteht, ist
evident und steht in Hinblick auf die zeitliche
Nähe ebenfalls in einem Zusammenhang.
Wenn man die gesamte Entwicklung
des symphonischen Schaffens von Beethoven
betrachtet, begreift man, dass es mehr als ein
Zufall gewesen sein mag, wenn er zwischen
den Kolossen der III. und V. die eher heiter
und lyrisch gehaltene IV. Symphonie in BDur
schuf. Wie beim „Bonaparte“-Klischee,
das der „Eroica“ anhaftet, so muss bei der V.
Symphonie einem anderen Klischee entgegengetreten
werden: dem der „Schicksals-
Symphonie“. Dass mit den ersten Takten ein
unbarmherziges Schicksal an irgendwelche
Pforten klopfen soll, ist eine Mystifikation
und hält keiner seriösen Überprüfung stand.
Ebenso wie die III. Symphonie ist auch die V.
auf das Finale hin konzipiert; dass der 5. Satz
attacca auf den 4. folgt, macht diese Anlage
in der V. noch deutlicher. So wie in der „Eroica“
im letzten Satz die Prometheus-Thematik
dominiert und zu voller Entfaltung gelangt,
findet man die Erklärung zum „Programm“
der V. ebenfalls in ihrem Finale.
Zunächst zum berühmten Eingangsmotiv
des 1. Satzes (Allegro con brio), der vielleicht
berühmtesten Eröffnung einer Symphonie
überhaupt: Wie bereits erwähnt, gehören die
ersten Skizzen zu diesem Motiv zur allerersten
Beschäftigung Beethovens mit der Symphonie.
Der Entwicklung dieser Skizzen, der Gestaltung
und Untersuchung des motivischen
Einfalls sind mehrfach interessante
Studien
gewidmet worden, die sehr klar zeigen, in welchem
hohen Maß Beethoven vom Gedanken
des Motivs bereits auf die Struktur des ganzen
Satzes zielte bzw. wie dieses Motiv schlussendlich
die Form des Satzes geradezu diktierte.
Auch das zweite Thema des 1. Satzes steht in
unmittelbarer Verwandtschaft zum Hauptmotiv.
Man kann sogar mit einigem Recht
behaupten, dass dieser erste Satz eine geradezu
monothematische Entwicklung nimmt, die
ebenso seine lapidare Kürze wie auch Schärfe
mit charakterisiert. Die Analyse lässt in ihrem
Aufbau unschwer die Sonatensatzform erkennen:
Exposition – Durchführung – Reprise –
Coda. Beethoven aber lässt sich niemals von
der Form den Inhalt diktieren, im Gegenteil:
Die Form hat dem Gehalt des Ganzen zu
dienen. So zeigen die Skizzen des Kompositionsprozesses,
wie Beethoven geradezu systematisch
Unregelmäßigkeiten und Irritationen in
die Wucht und den vorwärts drängenden Charakter
dieses einzigartigen Satzes einarbeitet.
Auch formal gibt es Parallelen zur „
Eroica“.
So wirkt die Reprise verkürzt, die Coda hingegen
ist derart ausgeweitet, dass sie nahezu
den Charakter einer zweiten Durchführung
hat. Ein zweites Moment des Satzes mag
den zeitgenössischen Hörern wohl einige
Irritation bereitet haben: In Takt 268 intoniert
die Oboe ein fast klagendes Motiv, das
mit seinem „Adagio“ in starkem Gegensatz
zum Hauptzeitmaß „Allegro con brio“ steht.
Diese Gegensätze zwischen dem drängenden
Haupttempo und einem retardierenden
Element innerhalb des Satzes bewirken erst
dann den von Beethoven intendierten Effekt,
wenn man seinem Wunsch nach einem sehr
raschen Tempo Rechnung trägt (und auch
die Wiederholungsangaben für die Exposition
ernst nimmt, was leider, besonders im
4. Satz, allzu oft vernachlässigt wird).
Dem geradezu fanatischen und stürmischen
Ausdruck des 1. Satzes setzt Beethoven
im 2. Satz auf den ersten Blick ein beruhigendes
Element entgegen, ein „Andante“ allerdings
mit der Bemerkung „con moto“. Im
Gegensatz zum 1. Satz verwendet Beethoven
im 2. die Variationenform; also ein Thema,
hier gefolgt von drei Variationen. Dabei lässt
er sich vom Grundcharakter der Symphonie
aber keineswegs abbringen. So lyrisch der Satz
mit dem Thema eingeleitet wird, so schnell
erreicht er spätestens in Takt 29 mit einer
Fanfare wieder jenen Ausdruck unbeugsamer
Energie, dessen Auflösung und Deutung wir
erst im 4. Satz erfahren werden. Allerdings
schimmert auch im 2. Satz der Gedanke des
Sonatensatzes durch. Die ganze Thematik
der Symphonie erlaubte es Beethoven nicht,
einfach und formal linear zu gestalten, und so
weist z. B. die 2. Variation durchaus Ähnlichkeit
mit einer Durchführung auf.
Das „Allegro“ des 3. Satzes setzt den Weg
ins Finale unbeirrt fort. In ihm unterscheidet
sich die vorliegende Aufnahme von (fast) jeder
bisher existierenden. Nahezu alle
Partitur-Ausgaben, die heute erhältlich sind, zeigen
den 3. Satz in einer dreiteiligen Form mit
einer langen Überleitung, an die sich nahtlos
das Finale anschließt. Dieser Gestalt liegen
demgemäß die meisten Analysen dieses Satzes
zugrunde. Bertrand de Billy, der Dirigent dieser
Aufnahme, hat sich allerdings nach langem
Studium und den verschiedensten Versuchen
in der Praxis entschlossen, der von Peter Gülke
1978 erstmals veröffentlichten Version zu
folgen, die die Anlage des 3. Satzes als fünfteilig
ausweist. Die Verwirrung in diesem Punkt
stiftete der Komponist selbst, indem die Originalhandschrift
eine andere Aussage trifft
(nämlich die fünfteilige) als der Stimmensatz
der Uraufführung bzw. die ersten Druckausgaben
– die allerdings wiederum überzählige
Takte der noch fünfteiligen Anlage enthielten.
Als ob diese widersprüchlichen Vorlagen
nicht reichten, existiert noch ein verwirrender
Briefwechsel zwischen Beethoven und seinem
Verlag über die Streichung bzw. Nichtstreichung
dieser überzähligen Takte.
Weder das vorliegende Notenmaterial
noch der Briefwechsel können somit endgültig
Aufschluss geben. Und so muss es letzten
Endes der Interpret sein, der eine Entscheidung
trifft – wenn er denn seine Stellung als
„composer’s advocat“ (Erich Leinsdorf ) oder
als „double“ des Komponisten (René Leibowitz)
ernst nimmt. Bertrand de Billy hat
nicht nur das Material und die vorliegenden
Argumentationen eingehend studiert, sondern
auch im Konzert mehrfach beide Versionen
ausprobiert und kam für sich zum
Schluss, dass die fünfteilige Anlage wohl
Beethovens eigentliche Intention gewesen
sein muss; denn die Aufführungen erwiesen
sich in der fünfteiligen Form des 3. Satzes wesentlich
logischer im Hinblick auf die Struktur
der ganzen Symphonie und die Logik
des 3. Satzes an sich. Auch weisen sämtliche
im Umkreis der V. Symphonie entstandenen
Werke Beethovens eine fünfteilige Anlage auf
(nicht nur die IV., VI. und VII. Symphonie,
sondern auch praktisch alle damals entstandenen
größeren Kammermusikwerke).
In der vorliegenden Form erscheint nun
der 3. Satz in der Abfolge A-(Minore)-B-
(Maggiore)-A-B-A’. Diese Einteilung kommt
so zustande, dass ab Takt 239 der erste Teil
des Satzes ab dem 5. Takt zur Gänze wiederholt
wird. Der Satz beginnt im Pianissimo
mit einer Phrase, die unisono von den Celli
und Kontrabässen vorgetragen und ab dem
6. Takt ausdrücklich im Pianissimo von den
übrigen Streichern mit Unterstützung von
Horn, Fagott und Klarinette fortgeführt
wird und auf einer Fermate endet. Noch einmal
wird das gleiche Motiv angesetzt, noch
einmal bleibt es an der Fermate sozusagen
„hängen“, um mit einem auftrumpfenden
Fanfarenmotiv der Hörner kontrastiert zu
werden. Die enge Verwandtschaft, vor allem
im Gestus, mit dem Einleitungsmotiv des
1. Satzes ist unüberhörbar. Im Trio dieses
Satzes setzt nun Beethoven dieser Fanfare
ein Fugato entgegen, das neuerlich von den
tiefen Streichern unisono intoniert wird und
teilweise von rhythmischen Absonderlichkeiten
nur so strotzt. Auch hier führt er die
bewusste Unruhe des 1. und 2. Satzes fort, die
völlig auf die Auflösung im Finale hinzielen.
Den Schluss des Satzes bildet nun nicht
eine Wiederholung des A-Teils, sondern ist
eine der aufregendsten Eingebungen Beethovens
überhaupt: eine Abwandlung, die
zugleich eine direkte Überleitung zum Finale
bildet und in dieser Form nachweislich erst
in einem sehr späten Stadium der Komposition
entstand. Um zu diesem Ergebnis zu
gelangen, musste Beethoven allerdings schon
im 2. Teil des Trios den Satz über alle Konventionen
hinweg verdichten – um so nicht
nur die Rückkehr zum Scherzo logischer zu
machen, sondern auch den Weg zum Finale
hin vorzubereiten. Die Ausarbeitung des (in
der hier vorliegenden Version) 5. Teils könnte
man fast als eine Skelettierung des Scherzomaterials
sehen: Zuerst vernimmt man noch
den Wechsel zwischen Bogen und Pizzicato,
dann behalten die Violinen im Gegensatz
zu den Bratschen das Pizzicato bei, bis der
Rhythmus, der wiederum deutlich an das Eröffnungsthema
der Symphonie gemahnt, nur
mehr im Pianissimo der Pauke zu vernehmen
ist. Dagegen setzen im ppp die Streicher zuerst
nur liegende Noten, bis eine vage Bewegung
entsteht, die an die Eröffnungsfigur
dieses Satzes gemahnt. Sodann hebt in den
letzten acht Takten ein Crescendo an, das
attacca mit dem ersten ff-Einsatz des Finales
abgebrochen wird.
„Per aspera ad astra“ – wörtlich: durch
Mühsal [Härte] gelangt man zu den Sternen,
oder freier: „durch Nacht zum Licht“: Das
könnte wohl als Motto über der ganzen Symphonie
stehen, die nun in diesem
C-Dur-Finale kulminiert. Piccolo, drei Posaunen
und ein Kontrafagott treten zum bisherigen
Instrumentarium dazu. Formal steht der
vierte wie zuvor der erste Satz in einer vierteiligen
Sonatenhauptsatzform. Anders aber
als die fast monothematische, auf äußerste
Knappheit bedachte Strenge des Kopfsatzes
ufert hier die Erfindungsgabe Beethovens
geradezu aus. Auch bei der Ausarbeitung der
Themen nimmt er sich nun Zeit: Allein die
Exposition umfasst mit Hauptthema, Seitenthema,
Seitensatz und Stretta-Schluss 85
Takte. Darauf folgt in der Durchführung
vor allem eine Verarbeitung des Seitenthemas,
vor der Reprise schiebt Beethoven noch
eine Reminiszenz an das Hornmotiv und die
Überleitung des Scherzos ein. Den breitesten
Teil nimmt nun mit 110 Takten die Reprise
ein, die schließlich in die zweiteilige Coda
mündet – mit ihren berühmten, scheinbar
nie enden wollenden Schlussakkorden.
Der plötzliche Reichtum des Materials
und die Ausführlichkeit der Verarbeitung führen
uns nun auch zu der bei Peter Gülkes Analyse
besonders hervorgehobenen Beziehung
zur französischen Revolutionsmusik. Bereits
in den 1920er Jahren hat Arnold Schmitz auf
die Bezüge Beethovens zu Cherubini, Gossec
und anderen französischen Komponisten
der Revolutionszeit hingewiesen. Gülke zeigt
auf, dass Beethoven direkt aus Rouget de
l’Isles (dem Verfasser der Marseillaise) „Hymne
dithyrambique“ geradezu die Losung der
französischen Revolution „La liberté!“ in die
V. Symphonie hinein komponiert hat. Es soll
hier gar nicht die Frage diskutiert werden, ob
Beethoven nun bewusst zitiert oder nur aus
dem Geiste der französischen Revolutionsmusik
heraus geschaffen hat (Gülke). Wesentlich
bleibt die Intention und vor allem, dass die
gesamte Symphonie auf dieses Finale hinausläuft.
Bereits im 2. Satz finden wir Querbezüge
zu dem, was im Finale zu einer geradezu
hymnischen Raserei in „la liberté“ führt: Das
„dolce“-Thema der Holzbläser in As-Dur wird
ff vom gesamten Orchester unterbrochen und
in C-Dur mit Vehemenz zum Schluss geführt.
Im Finale baut sich nun diese „liberté“-Raserei
bereits zum ersten Mal ab dem 4. Takt auf, erscheint
in der Durchführung ganz unauffällig
in den Celli wieder und übernimmt nach und
nach die Führung, um am Schluss geradezu
in einen „dithyrambischen Jubel“ (Gülke) hineinzutanzen.
Zur VI. Symphonie
Beethovens „Pastorale“ entstand mit ziemlicher
Sicherheit während der Sommermonate
1807 bis hin ins Frühjahr 1808. Obwohl sich
auch zu dieser Symphonie einzelne Skizzen
bereits im viel zitierten „Eroica“-Skizzenbuch
von 1803 finden, gibt es keinen Hinweis auf
einen konkreten symphonischen Plan. Dieser
muss wohl erst parallel zur Zeit der Ausarbeitung
der V. festgestellt werden. Die Bezeichnung
„Pastorale“ weist auf das Phänomen der
Naturbeschreibung mit musikalischen Mitteln
hin, das bereits vor der Zeit Beethovens
gängig war. Beethoven steht damit in einer
Tradition, die sich bis zum Beginn des 17.
Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Er war
sich der Beispiele in der Musikgeschichte
bzw. im Schaffen seiner Zeitgenossen durchaus
bewusst. Diese lassen sich bekanntermaßen
etwa bei Telemann, Händel, Vivaldi oder
Bach finden und natürlich in Haydns Oratorien,
die Beethoven sicherlich kannte.
Des Komponisten Untertitel zu seiner
VI. Symphonie „mehr Ausdruck der Empfindung
als Malerei“ weist nachdrücklich darauf
hin, dass er mit seiner Musik keine „naturalistische“
Schilderung der Natur mit Mitteln
der Musik im Sinn hatte. Dem steht nicht nur
der Haupttitel „Pastoral-Symphonie oder Erinnerung
an das Landleben“ entgegen, sondern
auch die Übertitel, die der Komponist jedem
einzelnen der Sätze ausdrücklich hinzugefügt
hat. Auch zu dieser Praxis gibt es historische
Parallelen. So findet man zum Beispiel bei Justinus
Heinrich Knecht ein 1791 geschriebenes
mehrsätziges Orgelstück Die durch ein Donnerwetter
unterbrochene Hirtenwonne mit durchaus
ähnlichen Satztiteln: „I. Die Hirtenwonne
in angenehmen, mannigfach abwechselnden
Gesängen, II. Die allmähliche Herannahung des
Donnerwetters, welches sich sowohl durch ein fernes
Donnern, als durch die schwüle (mit dumpfen
Harmonien ausgedrückte) Luft ankündigt,
und die frohen Gesänge der Hirten stört, III. Der
heftige Ausbruch des Donnerwetters selbst, unter
welchem einigemale die in Jammmern gekehrten
Lieder der Hirten vernommen werden, IV. Der
langsame Abzug desselben, und die darauf folgende
Aufheiterung der Luft, V. Die Fortsetzung und
der Beschluss der vorher unterbrochenen wonnenvollen
Hirtengesänge.“
Noch davor, im Jahr 1784, komponierte
Knecht ein fünfsätziges Orchesterwerk, eine
Grande Symphonie mit dem Titel „Portrait
Musical de la Nature“, deren Satzbezeichnungen
denen der „Pastorale“ vielleicht noch
näher kommen. Und auch bei anderen Komponisten
der Beethovenzeit (wie Georg Joseph
Vogler, Leopold Mozart oder dem Mozartschüler
Franz Jacob Freystädtler) findet man
konkrete Vorbilder. Bei einem Menschen wie
Beethoven, von dem man weiß, dass er nicht
nur jede erreichbare Partitur gelesen, sondern
viele davon auch sorgfältig studiert und exzerpiert
hat, ist anzunehmen, dass er zumindest
einen Großteil dieser Werke gekannt hat.
Beethoven übernahm aber niemals einfach
nur gängige Zeitströmungen, sondern veränderte
sie so radikal, dass sie die Musikgeschichte
nachhaltig beeinflussten. In einem Skizzenbuch
heißt es wörtlich: „Jede Mahlerei, nachdem sie
in der Instrumentalmusik zuweit getrieben, verliehrt“.
Beethovens Naturverbundenheit ist
nicht nur hinlänglich belegt, sie ist über den
Ausdruck seines unmittelbaren Wohlbefindens
in der Natur hinaus eine grundsätzliche Lebens-
und Geisteshaltung. Wir wissen einiges
über Beethovens Lektüre, und neben seiner
ständigen Auseinandersetzung mit Homer oder
Goethe kennen wir zum Beispiel angestrichene
Passagen in einer Ausgabe des Werkes Betrachtungen
über die Werke Gottes im Reiche der Natur
und Vorsehung auf alle Tage des Jahres, verfasst
vom evangelischen Geistlichen Christoph
Christian Sturm. In einem Essay von Rüdiger
Heinze weist dieser zu Recht auf Parallelen mit
Immanuel Kants Allgemeiner Naturgeschichte
hin, ein Werk, das Beethoven in einem Konversationsheft
ausdrücklich erwähnt.
Das Moralische Gesez in unß u. der gestirnte
Himmel über unß – dieses Zitat lässt sich
in vielfältiger Weise auf Beethovens Denken
und Werk anwenden. Für die Pastorale muss
es über allen Titeln und Untertiteln gleichsam
als übergeordnetes Thema stehen. Wenn
man bei seinem symphonischen Werk davon
spricht, dass die „Eroica“ die erste deutlich
auf das Finale hin zielende Symphonie ist, so
muss dies für die „Pastorale“ nicht nur formal
und thematisch, sondern insbesondere
inhaltlich gelten. Der Lobgesang der Hirten
im 5. Satz „Dank an die Gottheit“ ist vielleicht
der beredteste Ausdruck Beethovens für jenes
Bewusstsein der inneren moralischen
Verpflichtung unter jenem „Gestirnten Himmel“,
den er dann in seinem letzten symphonischen
Werk mit den Worten Schillers besingen
lässt: „Brüder! Überm Sternenzelt, muss
ein lieber Vater wohnen… Such ihn überm
Sternenzelt! Über Sternen muss er wohnen.“
Dies ist tatsächlich nicht mehr nur „Empfindung
als Malerei“, sondern vielmehr eine
Lebensphilosophie in Tönen ausgedrückt. Peter
Hauschild weist in seiner Analyse (Edition
Peters) auch anhand der Skizzen darauf hin,
dass die Eröffnung des 5. Satzes – ein Hirtenmotiv
– die Keimzelle zur ganzen Pastorale
darstellt. Wir finden dieses Thema bereits im
Eingangsmotiv des 1. Satzes, sowie in unterschiedlichen
Formen verarbeitet am Beginn
jedes weiteren Satzes (was den 5. betrifft, so ist
diese „Einleitung“ der Choral des ausgehenden
4. Satzes). Die Tonart F-Dur steht schon in der
Musikgeschichte vor Beethoven häufig für die
Schilderung der Natur. Auf den ersten Blick
gesehen hat der 1. Satz der VI. Symphonie mit
der Tempobezeichnung „Allegro ma non troppo“
(Angenehme, heitere Empfindungen, welche
bei der Ankunft auf dem Lande im Menschen
erwachen) genau wie ihr „Schwesterwerk“, die
V. Symphonie, keine langsame Einleitung wie
etwa die IV. oder VII. Eine weitere Parallele
kann man entdecken: dass sich nämlich das
retardierende Element des Anfangs quasi auf
eine Fermate beschränkt. In der V. wird man
sofort mit dem Thema konfrontiert, dessen
letzter Ton in der Fermate die Energie noch
verstärkt. In der VI. kommt das Thema gleichsam
wie eine Floskel unvermittelt herein, um
am Ende der Fermate innezuhalten.
Erst mit den nächsten Takten wird klar,
dass wir uns – wie bei der V. – bereits mitten
im thematischen Geschehen befinden. Diese
Verknappung benutzt Beethoven zum ersten
Mal in der „Eroica“. Dort stellt er allerdings
quasi mit den zwei harten Es-Dur-Akkorden
gleichsam das Ergebnis der ganzen Symphonie
an den Anfang, um danach vor unseren Ohren
zu entwickeln, wie es dazu kam, während in
der V. und der VI. Symphonie das thematische
Material unmittelbar den Ausgangspunkt
bildet. Überhaupt sind die Parallelen in den
beiden Symphonien V und VI in kompositorischer
Hinsicht viel enger, als es ihr unterschiedlicher
Charakter vermuten lässt. In vier
Takten stellt Beethoven uns in der „Pastorale“
das wesentliche thematische Material vor, um
dann in weiteren 508 Takten gleichsam darüber
zu meditieren. Dies geschieht allerdings in einer
so kunstvollen Durchführung im Rahmen
der Sonatenhauptsatzform und in einem Beziehungsgeflecht
von Dur-Tonarten, die selbst
in Beethovens Werk einzigartig dastehen.
Im 2. Satz „Andante molto moto“ („Szene
am Bach“) kommt Beethoven der Naturschilderung
wohl am nächsten, etwa bei der
Darstellung des Wassers gleich zu Beginn des
Satzes oder bei den Vogelstimmen am Ende.
Drei Vogelstimmen hat Beethoven selbst in
der Partitur bezeichnet: Nachtigall, Wachtel,
Kuckuck. Auch der 2. Satz ist von seiner
formalen Anlage her ein Sonatenhauptsatz,
in dem die Variationenform eingearbeitet ist
(ähnlich wie in der V., wo die Anlage ein Variationensatz
ist, jedoch die Sonatenhauptsatzform
darunter durchschimmert). Die erwähnten
Vogelrufe bilden dann in der Coda des
Satzes gleichsam eine fixierte Kadenz. Ebenso
wie im 1. Satz können hier nicht annähernd
die in sich durchaus komplexe Anlage und
fast ziselierten Feinheiten beschrieben werden.
Das Ergebnis ist jedoch die Fortführung der
Grundstimmung des 1. Satzes sowohl durch
die Beziehungen der Tonarten (z.B. steht der
2. Satz in B-Dur, genau wie der Beginn der
Durchführung des 1. Satzes) wie auch die Verarbeitung
des Grundmaterials.
„Lustiges Zusammensein der Landleute“
überschreibt Beethoven den 3. Satz („Allegro“),
der gleichzeitig den ersten Teil des Schlusstryptichons
bildet, denn dieser und die beiden folgenden
Sätze gehen pausenlos ineinander
über,
sind also quasi „durchkomponiert“. Er ist in
der klassischen Struktur eines Tanzsatzes gehalten,
was aber auch leicht in die Irre führt – als
„Scherzo“ bezeichnet Beethoven nur in der II.
und III. Symphonie den 3. Satz. Ein Menuetto
wie in der I. ist es hier schon gar nicht, denn
nun tritt uns völlig unvermittelt der Beethoven
der „Deutschen Tänze“ entgegen. Rudolf Bockhold
argumentiert in seiner Analyse durchaus
überzeugend, dass der 3. Satz in Wahrheit den
Angelpunkt der Symphonie und eigentlich ein
logisches Finale zu den zwei vorangegangenen
Sätzen bilde, würde nicht die Gewalt des Gewitters
das Vergnügen nachhaltig vernichten.
Somit deutet er das eigentliche Finale als „Epilog“.
Im 3. Satz aber treten zum bisherigen Instrumentarium
nun die Trompeten hinzu, und
auch dies ist nicht völlig harmlos gemeint. Zwar
bricht Beethovens Humor in diesem Satz durch
– in absichtlichen rhythmischen Fehleinsätzen
wird hier ländliche Dorfmusik charakterisiert
–, aber die Trompete konterkariert eher das heitere
Treiben, als dass sie es unterstützt, und baut
so eine Vorahnung auf das Kommende auf.
Der 4. Satz ist ein Allegro und hat den
Untertitel „Gewitter, Sturm“. Dramaturgisch
erleben wir mit dem Übergang vom 3. zum
4. Satz die Unterbrechung des „Lustigen Zusammenlebens
der Landleute“, während gegen
Ende das nachlassende Gewitter der anschließenden
allgemeinen Erleichterung und
Dankbarkeit Raum lässt. Mit dem 4. Satz
stellt Beethoven alle bisherigen Schilderungen
von Naturgewalten weit in den Schatten.
Nachdem im vorangegangenen Satz bereits
die Trompete hinzugetreten ist, finden nun
zudem Pauken, Posaunen und Piccolo ihren
Einsatz. Das bisher verwendete Instrumentarium
reizt Beethoven bis in extremste Lagen
aus, ebenso wie die dynamische Bandbreite
vom Pianissimo bis zum Fortissimo – mit
allen subtilen Zwischenabstufungen. Zum
ersten Mal in dieser Symphonie tritt uns nun
– allerdings mit höchster Vehemenz – eine
Moll-Tonart entgegen. Beethovens Ausdruck
für das Bedrohliche (Egmont-Ouvertüre, Florestan-
Arie) ist f-Moll. Aus dem pp baut sich
der Satz bedrohlich auf, entwickelt wellenartig
in den ersten zwei Dritteln eine Steigerung bis
zum Höhepunkt bei Takt 106. Nun brechen
auch die Posaunen herein, im letzten Drittel
beruhigt sich das musikalische Geschehen allmählich,
bis der Satz wieder im pp endet.
Das Finale, mit „Hirtengesang. Wohltätige,
mit Dank an die Gottheit verbundene Gefühle
nach dem Sturm“ betitelt, hat als Tempobezeichnung
ein maßvolles Allegretto in 6/8.
Die Form erscheint zunächst als Rondo übersichtlich
und dem „beruhigenden“ Charakter
des Satzes angemessen, aber Beethoven wäre
nicht Beethoven, wenn nicht auch hier Formelemente
– sowohl des Sonatenhauptsatzes
als auch der Variation – mit einflössen. An
dieser Stelle muss noch einmal darauf hingewiesen
werden, dass Beethovens formale wie
kompositorische Verarbeitung weit über jede
platte Naturschilderung hinauszielte. Rudolf
Bockholdt hat darauf hingewiesen, dass die
choralartigen Schlussakkorde des 4. Satzes in
abgewandelter Form zu Beginn jedes Satzes
gleichsam als Symbol für den Naturgedanken
auftauchen und diese wiederum aus dem Anfangsmotiv
heraus entwickelt sind. Genauso
steht der einleitende Quart-Sext-Akkord in
engster Beziehung mit dem Anfangsmotiv des
Werkes. Aus dem Akkord entwickelt sich nach
wenigen Takten in der Violine das Hauptthema
und stellt – sich über den ganzen Satz
stetig
steigernd – das Preislied der Natur, der
Schöpfung und des Schöpfers dar.
In dem eingangs zitierten Werk von Christoph
Christian Sturm hat Beethoven die folgenden
Worte hervorgehoben: „Man kann
die Natur mit Recht eine Schule für das Herz
nennen, weil sie uns auf sehr einleuchtende Art
die Pflichten lehrt, welche wir sowohl in Absicht
auf Gott, als auf uns selbst und auf unsere Nebenmenschen
auszuüben schuldig sind“. Man
könnte also die „Pastorale“ durchaus weniger
als tönende Naturschilderung denn als klingende
Lebensmaxime Beethovens betrachten,
eben: „Das Moralische Gesez in unß u. der gestirnte
Himmel über unß“.
Michael Lewin
Diese Arbeit verwendete als wesentliche Grundlagen
folgende Werke: P. Gülke: Zur Neuausgabe
der Sinfonie Nr. 5 v. Beethoven, Leipzig 1978.
A. Sandberger: Zur Pastoralsymphonie in: Ausgewählte
Aufsätze, München 1923. H. Schenker:
Beethoven V. Symphonie in: Der Tonwille, Wien
1921. Peter Hauschild: Beethoven Sinfonie Nr. 6,
Leipzig 1985. Rudolf Bockholdt: Beethoven VI.
Symphonie F-Dur, München 1981. Martin Geck:
V. Symphonie in: Die 9 Symphonien Beethovens,
München 1994, Hg. v. R. Ulm. VI. Symphonie in:
Die 9 Symphonien Beethovens, München 1994,
Hg. v. R. Ulm, sowie die Revisionsberichte von
Jonathan del Mar, 1998/99 Kassel.