Schon längst kein Geheimtipp mehr: Michael Korsticks
Beethoven-Zyklus erntete vom Start weg euphorische
Kritiken. Korsticks Ansatz, der kompromisslose
Notentreue mit Temperament und pianistischer
Fulminanz verbindet, begeistert, polarisiert und setzt
Maßstäbe.
Auf Vol. 4 interpretiert Michael Korstick die drei
Sonaten op. 10, die den Typus der klassischen
Sonate noch einmal auf höchstem Niveau repräsentieren
sowie die Sonate op. 13, die „Grande Sonate
Pathétique“, die einen Durchbruch im philosophischen
Denken Beethovens und eine Richtungsweisung
in das Zeitalter der Romantik markiert.
Beethovens
Sonaten
op. 10/1–3 und op. 13
Als Beethoven im September 1798 sein
Opus 10, bestehend aus drei Klaviersonaten,
veröffentlicht und ein gutes Jahr später,
im Dezember 1799, seine von ihm selbst
so betitelte „Grande Sonate pathétique” als
Einzelstück unter der Opuszahl 13 folgen lässt,
greift er auf ein bereits bewährtes Muster zurück,
denn mit seinen ersten vier Sonaten war
er exakt nach der gleichen Strategie verfahren.
Bei genauerer Betrachtung findet diese
zunächst rein äußerlich anmutende Parallele
ihre Entsprechung in den engen inhaltlichen
Beziehungen der Werke zueinander.
Zwar ist die c-Moll-Sonate Op. 10 Nr. 1 im
Gegensatz zu ihren vier Vorgängern nur dreisätzig;
trotzdem baut sie erkennbar auf den
in der f-Moll-Sonate Op. 2 Nr. 1 erreichten
kompositorischen Ergebnissen auf und treibt
diese in noch extremere Regionen des Ausdrucks
voran. So beginnt auch das „Allegro
molto e con brio” wie Op. 2 Nr. 1 mit einem
aufsteigenden Dreiklang, der hier allerdings
durch gezackte Punktierungen noch weiter
geschärft ist und über weite Strecken das
explosive Gepräge des Kopfsatzes dominiert.
Auch der zweite Satz erhält eine extreme
Tempobezeichnung, „Adagio molto”; der feierliche
Charakter weist Ähnlichkeit mit dem
Mittelsatz des C-Dur-Konzerts Op. 15 auf, der
in der gleichen Tonart steht. Während der
Schlusssatz von Op. 2 Nr. 1 sich sofort als
Sturm-und-Drang-Stück zu erkennen gibt,
bleibt das mit „Prestissimo” überschriebene
exzentrische Finale von Op. 10 Nr. 1 zunächst
elf Takte lang im pianissimo, bevor die erste
Steigerung eintritt. Der Satz gipfelt schließlich
in einem fast schon gewalttätigen Höhepunkt,
einer Vorausahnung des Hauptthemas der
5. Sinfonie (nur zufällig ebenfalls in c-Moll?)
und bringt schließlich eine echte kompositorische
Neuerung: eine Coda, die im entlegenen
Des-Dur das thematische Material in
einem langen ritardando-diminuendo bis zur
Unkenntlichkeit „dekomponiert”, dann mit
einer schroffen Wendung die Haupttonart
einbrechen und den eruptiven Satz mit einer
knappen Schlussformel im diminuendo enden,
ja abreißen lässt.
Die F-Dur-Sonate Op. 10 Nr. 2 bildet hierzu
einen ähnlichen Kontrast, wie er zwischen der
ersten und zweiten Sonate aus Op. 2 zu finden
ist: Beethoven führt den Hörer in eine freundlicher,
heller und lyrisch anmutende Sphäre, die
oftmals mit dem Begriff „pastoral” umschrieben
wird. Bei analytischer Betrachtung zeigt
sich allerdings, dass sich hinter der vermeintlichen
Einfachheit ein komplexes Geflecht
thematischer Beziehungen versteckt. Statt eines
klassischen Adagios tritt ein Impromptuähnliches
f-Moll-Allegretto an die zweite Stelle.
Hier gibt es Momente, in denen man sich
beinah in die Welt Schuberts versetzt meinen
möchte; in der Tat besitzt der Mittelteil in Des-
Dur eine frappierende Ähnlichkeit mit dem in
derselben Tonart stehenden Trio des dritten
Satzes von Schuberts B-Dur-Sonate D 960.
Der launige Finalsatz verzichtet auf dramatische
Effekte und bringt mit seinen Rückgriffen
auf barocke Satztechniken die Sonate zu einem
organischen Abschluss.
Wie in Op. 2 repräsentiert auch in Op. 10
das Schlusswerk den Typus der großen, viersätzigen
Konzertsonate. Im direkten Vergleich
profitiert der erste Satz der D-Dur-Sonate von
den kompositorischen Errungenschaften des
Kopfsatzes von Op. 7: Der Fortgang der thematischen
Entwicklung ist von rigorosester motivischer
Arbeit bestimmt, erweckt jedoch den
Eindruck fast improvisatorischer Spielfreude
und eines unerschöpflichen Gestaltungsreichtums
– Kennzeichen eines reifen Meisters. Im
zweiten Satz, „Largo e mesto”, wagt sich Beethoven
in ein entgegengesetztes Extrem; nach
seiner eigenen Aussage spiegele sich hier „der
Seelenzustand eines der Melancholie Verfallenen”.
Sicherlich ist dieser abgrundtief düstere,
fast statische Satz einer der Höhepunkte
im Werk des Komponisten, in Vielem wohl nur
noch mit dem „Adagio sostenuto” der Hammerklaviersonate
Op. 106 vergleichbar.
Diesem Exkurs in die Abgründe der
menschlichen Seele lässt Beethoven ein Menuett
folgen, dessen schlichte Schönheit den
Hörer – gleichsam durch einen Beleuchtungswechsel
– ins Diesseits zurückführt; das Trio
mit seinen polternd-humoristischen Zügen,
die man eher mit einem regelrechten Scherzo
assoziieren würde, bildet einen gleichwohl organischen
Kontrast. Das geistreiche und kapriziöse
Finale wiederum treibt ein Katz-und-
Maus-Spiel mit dem Hörer, der immer wieder
auf falsche Fährten gelockt wird, und endet
schließlich unerwartet mit einer lakonischen
Geste im pianissimo.
Hatte Beethoven in diesen drei Sonaten
seine gewachsene Souveränität erneut eindrucksvoll
unter Beweis gestellt und das, was
wir heute als „die klassische Klaviersonate”
bezeichnen, zu noch einmal neuen Höhen
geführt, so markiert die „Grande Sonate Pathétique”
Op. 13 weniger durch ihre Form als
durch ihre Attitüde einen Wendepunkt. Beethoven,
bekennender Verfechter der Ideale der
Aufklärung, vertraut mit den Schriften Kants
und Voltaires, begeistert sich zunehmend für
die Gedankenwelt des Jean-Jaques Rousseau,
welche zu dieser Zeit immer mehr zur philosophischen
Basis einer Strömung in allen Künsten
wird, die nicht mehr die abstrakte Vernunft in
den Mittelpunkt stellen will, sondern das Individuum
als Träger von Gedanken und Gefühlen;
einer Strömung, die das Zeitalter der Romantik
einläutet. Beethoven war sich des Spannungsfeldes
zwischen Vernunft und Widerstand
gegen die Herrschaft der Vernunft durchaus
bewusst; er sah sich selbst als Schöpfer, dessen
Los es war, nicht zur übrigen Menschheit
gehören zu dürfen. Aufschlussreich in diesem
Zusammenhang ist Beethovens Satz in seinem
„Heiligenstädter Testament”, in dem es heißt:
„ich bin gefasst – schon in meinem 28. jahr
gezwungen Philosoph zu werden”, d.h. exakt
im Entstehungsjahr der Pathétique – eine treffliche
Basis für Spekulation.
Ob die ungeheure Popularität des Werkes
auf solcher Spekulation beruht, ob sie der ostentativ
einfachen formalen Anlage zu verdanken
ist, oder mit der ungewohnt eingängigen,
beinahe simplen Melodik zu erklären ist, ist
von untergeordneter Bedeutung. Tatsache ist,
dass die Pathétique zu dem geworden ist, was
der heutige Sprachgebrauch mit dem Begriff
„Mega-Hit” treffend beschreibt, weil es dem
Komponisten unzweifelhaft gelungen ist, ein
Werk zu schaffen, in dem Form und Inhalt,
Architektur und Botschaft auf so ideale Weise
miteinander verschmelzen, dass unterschiedlichste
Hörer, auf unterschiedlichste Weise
hörend, von der Musik berührt und gepackt
werden – eine Ästhetik, die ganz im Sinne
Mozarts gewesen wäre: „Brillant – angenehm
in die Ohren – Natürlich ohne in das leere zu
fallen – hie da – können auch kenner allein satisfaktion
erhalten – doch so – daß die nichtkenner
damit zufrieden seyn müssen, ohne zu
wissen, warum.”
Ein Pianist, ein Spitzname und Sekundenkleber
Im Sommer 1975 hob Sascha Gorodnitzki,
ehemaliger Lieblingsschüler und Assistent
von Josef Lhévinne und weltberühmter Lehrer
an der Juilliard School, in seiner New
Yorker
Wohnung das Telefon ab. Ein 20-jähriger
Deutscher fragte ihn kühn, ob er ihm vorspielen
dürfe, da er sein Schüler werden wolle.
Gorodnitzki bat ihn, ihm ein Tonband mit einer
Beethoven-Sonate zu schicken, dann wolle
man weitersehen, und er war nicht schlecht
erstaunt, als der junge Dachs am anderen
Ende der Leitung fragte, welche er denn gern
hören wolle; auf Nachfrage stellte sich heraus,
dass der Anrufer namens Michael Korstick
bereits alle 32 Sonaten einstudiert hatte. Als
Gorodnitzki einige Monate später ein frisches
Band mit – Ehrensache – der Sonate op. 106
erhalten und abgehört hatte, nannte er die
Aufnahme „die beste Hammerklaviersonate,
die (er) je gehört“ habe, sagte einen Platz in
seiner Klasse zu und organisierte ein Stipendium.
Als Michael Korstick 1976 sein Studium in
New York aufnahm, hatte die Geschichte natürlich
die Runde gemacht, und nachdem auf
den Programmen seiner ersten Konzerte auch
noch alle späten Sonaten und die Diabelli-
Variationen gestanden hatten, passierte es
immer öfter, dass seine Kommilitonen den Kölner
um Rat fragten, wenn es um die Werke des
großen Bonner Komponisten ging. Bald wurde
„Ask Doctor Beethoven“ zum geflügelten
Wort, und so kam, erzählt Korstick, „irgendwann
mal zufällig ein Tropfen Sekundenkleber
zwischen den Spaßvogel und seinen Spitznamen,
und das ganze entwickelte permanente
Klebekräfte“. Er habe das aber gar nicht als
eindimensionales Etikett empfunden, war es
doch nicht mehr als ein liebevoll-ironisches
Anhängsel, das in erster Linie mit seiner Herkunft
aus Deutschland zu tun hatte, und zum
Thema Etikett meint er lapidar: „Lieber Dr.
Beethoven als Dr. Czerny!“ Als Korstick nach
siebenjährigem Studium als Wettbewerbsgewinner
des Deutschen Musikrats nach
Deutschland zurückkehrte und seine Konzertkarriere
begann, fand eine Etikettierung unter
umgekehrten Vorzeichen statt: Er bekam oft
zu hören, da er ja so lange in Amerika studiert
habe, müsse er doch ein Experte für amerikanische
Musik sein; das führte dazu, dass die
Stücke, die er zahlenmäßig am häufigsten mit
Orchestern gespielt hat, ausgerechnet das
Klavierkonzert und die Rhapsody in Blue von
Gershwin wurden.
Welche Musik ihm aber wirklich „am Herzen
lag“, zeigte sich nach einem Juilliard-
Konzert in der Alice Tully Hall in New York, in
der Korstick die Sonate op. 111 gespielt hatte:
als seine Freunde und Kollegen ihn in seiner
Garderobe beglückwünschten, öffnete er die
Knöpfe seines Frackhemds – und zum Vorschein
kam ein rotes T-Shirt, auf dessen Brust
ein Beethoven-Konterfei prangte.
Sascha Selke